Reihe „Junge Talente“ der Brüder Grimm Festspiele Hanau zeigt „Tschick“: Im geklauten Lada auf der Straße in die Freiheit

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Maiks Resümee am Ende der Reise Foto: Brüder Grimm Festspiele, Hendrik Nix
Maiks Resümee am Ende der Reise Foto: Brüder Grimm Festspiele, Hendrik Nix

Fast zeitgleich mit dem Fußballkrimi Deutschland-Spanien fand am Freitagabend die Premiere von „Tschick“ im Rahmen der Festspiel-Reihe „Junge Talente“ statt.

Starke Konkurrenz, sollte man meinen. Doch die Geschichte zog die Zuschauer in der ausverkauften Wallonischen Ruine sichtlich in ihren Bann, so dass das Geschehen auf dem Stuttgarter Rasen sehr schnell zur Nebensache wurde. Dass die drei jungen Akteure es schafften, das hohe Tempo der Inszenierung zu halten, belohnte das Publikum mit langanhaltendem Applaus und stehenden Ovationen.

Das Format „Junge Talente“, vor einigen Jahren im Rahmen der Brüder Grimm Festspiele Hanau aus der Taufe gehoben, hat sich etabliert. Die Ruine der Wallonisch-Niederländischen Kirche mitten in der Hanauer Innenstadt bildet die Kulisse für das Wirken junger Theaterschaffender in ihren ersten Berufsjahren – und ist immer ausverkauft. Das Publikum sah hier unter anderem „Das kunstseidene Mädchen“, mit dem die in der Brüder- Grimm-Stadt aufgewachsene Regisseurin Leonie Rebentisch in ihrer Heimatstadt ihr Regiedebüt gab. Rebentisch zeichnet auch für die diesjährige Produktion verantwortlich: Die Roadstory „Tschick“ nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf (Autor: Robert Koall. Zwei 14-Jährige, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, machen sich in einem gestohlenen Lada zu einer abenteuerlichen Reise auf.

Da ist zum einen Maik (Tim Lanzinger), den alle in seiner Klasse nur „Psycho“ nennen. Er stammt aus einem wohlhabenden Elternhaus, in dem aber auch wahrlich nicht alles Gold ist, was glänzt. Den Spitznamen brachte ihm ein Aufsatz ein, den er über seine Erlebnisse in den Sommerferien schreiben musste und der, ziemlich missverständlich, den Titel „Mutter auf der Beautyfarm“ trug. In Wahrheit verbrachte sie die Wochen in einer Entzugsklinik, um ihre offenbar seit Jahren bestehende Alkoholsucht in den Griff zu bekommen. Maik hat in seinem Schulaufsatz kaum ein Detail der Sucht ausgelassen, ist selbst total begeistert von seinem vermeintlichen Meisterwerk, traf damit aber nicht auf Gegenliebe bei seinem Lehrer. Er selbst hält sich für langweilig, ist schüchtern und sozial isoliert. Als „Tschick“ (Valentin Mirow) neu in die Klasse kommt, kann Maik zunächst mit ihm nichts anfangen – zu gegensätzlich scheinen ihre Leben. Tschick ist das, was man eine „coole Socke“ nennt: Er trägt schräge Klamotten, beteiligt sich nur minimal am Unterricht, hat kein Interesse an seinen Mitschülern und gibt nichts über sich preis. Als am letzten Tag vor den Sommerferien Maik von beiden Eltern bis auf weiteres allein daheim gelassen wird und Tschick in einem geklauten Lada vorfährt, beginnt für beide ein Abenteuer, das sie zusammenschweißt und sie Freiheit „schmecken“ lässt.

Wie aber stellt man mit drei Darstellern eine komplette Reise dar, verschiedene Orte, zahlreiche Charaktere? Leonie Rebentisch arbeitet mit Requisiten, die auch schon mal in einem Gespräch zu dritt hin- und hergereicht werden. Da ist zum Beispiel die Szene mit einer Mutter und ihrem Kind, bei denen Maik und Tschick zum Essen eingeladen werden. Die Mutter wird symbolisiert mit einem blumengeschmückten Hut, den mal Lanzinger, dann wieder Mirow und auch die Dritte im Bunde, Leonie Krieg, auf dem Kopf haben, um dann sofort in die Rolle der ökobewussten Mutter des kleinen Friedemann zu schlüpfen. Überhaupt sind die drei jungen Schauspieler nicht nur in ihren Hauptrollen Maik, Tschick und Isa (das Mädchen, das die Jungs auf ihrer Fahrt treffen und mitnehmen) präsent, sondern mimen im Verlauf des Stückes zahlreiche Charaktere – alles minimalistisch gelöst. Autoreifen nehmen eine zentrale Rolle ein: Sie sind Stuhl, Auto, Fahrrad und vieles mehr. Fahren die Jugendlichen zum Beispiel in ihrem Lada, hopsen sie synchron auf zwei Reifen, gehen synchron in die Kurven, bremsen synchron. Die Bühne, bestehend aus schrägen Holzelementen und an den Seiten begrenzt durch Holzlatten, gibt den drei Schauspielern die Möglichkeit, „abzutauchen“, an anderer Stelle wieder zu erscheinen, in einer Badeszene sogar ganz buchstäblich. Das Bühnenbild konzipierte Dennis Krauß. Nicht wenige Szenen sind skurril, auch die Sprüche bringen die Zuschauer zum Lachen, doch verflacht das Stück dadurch nicht. Stille Momente haben ebenfalls ihren Raum. Als Maik und Tschick auf einer Müllhalde die smarte und selbstbewusste Isa treffen, verändert sich subtil die Dynamik in der Gruppe – es knistert zwischen Maik und ihr, doch auch Tschick scheint Interesse an Isa zu haben. Erst sehr viel später gesteht er Maik, dass er homosexuell ist. Je länger der Roadtrip dauert, desto mehr fallen die Barrieren zwischen den beiden, sie fassen Vertrauen zueinander, und es wird klar: Im Grunde sind sie beide arm dran. Auch Isa, die ein kleines Stück mit ihnen reist, gehört in diese Kategorie. Sie lebt offensichtlich ohne Familie, träumt von einer Karriere als Moderatorin und hat dafür sogar schon ein Lied ausgesucht: „I’m a survivor“. Überhaupt: Musik. Regisseurin Leonie Rebentisch hat an einigen Stellen eine E-Gitarre eingebaut, auf der Leonie Krieg und Valentin Mirow untermalend spielen, der Rhythmus wird gestampft und geklatscht.

Das Ende der Reise wird von einem schweren Autounfall besiegelt: Maik kann hinter einem schlingernden Tiertransporter nicht rechtzeitig bremsen. Glück im Unglück: Die Jungs bleiben unverletzt, werden aber von der Polizei aufgegriffen und wegen des Fahrens ohne Führerschein und des Autodiebstahls vor Gericht gestellt. Tschick wird aufgrund seiner Herkunft und familiären Verhältnisse in ein Jugendheim geschickt, Maik mit der „stinkreichen“ Familie bekommt eine Ermahnung – wen wundert dieser Urteilsspruch? Der Schluss gehört Maiks Resümee der Reise: „99 Prozent der Welt ist schlecht, aber das Wahnsinnige war, dass Tschick, Isa und ich auf unserer Reise dem einen Prozent begegnet sind.“

(Text: PM Ballcom)