Nach mehrtägiger Fahrt erreicht der 40-Tonner aus Rödermark Darmstadts Partnerstadt Uzhhorod in der Westukraine. Ein Polizeiwagen lotst ihn durch die verkehrsreichen Straßen der Innenstadt zum „Eulennest“, Hauptquartier der Wohltätigkeitsorganisation gleichen Namens und Verteilzentrum für die Hilfsgüter, die der Lkw aus Darmstadt/Griesheim anliefert. Freiwillige Helferinnen und Helfer stehen zur Entladung bereit.
Nacheinander wandern die Sachspenden hilfsbereiter Bürgerinnen und Bürger aus Südhessen in den ausgedehnten Gewölbekeller, der zu Sowjetzeiten als Weinlager diente. Kleidung, Schuhe, Lebensmittel, Hygienebedarf, Spielsachen für die Kinder, Bettzeug, Geschirr, auch Fahrräder, Kühlschränke, Waschmaschinen: „Alles wird gebraucht, und wir sind sehr dankbar, dass die Hilfsbereitschaft immer noch anhält“, sagt Dr. Viktoriya Syno, die Vorsitzende der Organisation „Eulennest“ und des Partnerschaftsvereins Uzhhorod-Darmstadt (PVUD).
Sachspenden kommen in die richtigen Hände
Ihre Gesprächspartner sind Mitglieder einer Abordnung des Vereins Partnerschaft Deutschland-Ukraine/Moldova (PDUM), die sich im Rahmen des PDUM-Projektes „Städtepartnerschaft in Krieg und Wiederaufbau“ vom 5. bis 9. November mit der Lage in Uzhhorod vertraut machten und mehrere Einrichtungen besuchten. Im „Eulennest“ konnten sie sich bei einem Rundgang davon überzeugen, dass die Sachspenden in die richtigen Hände kommen. Montag bis Freitag ist von 10 bis 17 Uhr Ausgabe, über die sorgfältig Buch geführt wird. Geflüchtete und Bedürftige holen sich, was sie benötigen. Für bestimmte Gruppen wie etwa junge Mütter gibt es Sonderregelungen. Aktionen werden über die sozialen Medien bekanntgegeben.
Obwohl in der Ukraine Krieg herrscht, stellte die Reise nach Uzhhorod keine Gefahr für die fünf PDUM-Mitglieder und eine Expertin unter Führung des Vereinsvorsitzenden Dr. h.c. Ulrich Wissmann dar. Uzhhorod liegt im äußersten Westen der Ukraine unmittelbar an der slowakischen Grenze, vom Rest des Landes durch die Karpaten getrennt, und gilt als sicher. Noch nie richteten hier Drohnen oder Raketen Unheil an. 40.000 Ukrainerinnen und Ukrainer aus kriegsbetroffenen Gebieten suchten nach dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 Schutz in Uzhhorod.
Eine Herausforderung war das damals für die 115.000 Einwohner zählende Provinzhauptstadt des Regierungsbezirks Transkarpatien. Die Geflüchteten mussten untergebracht, verpflegt und medizinisch versorgt werden. „Mit viel Energie, Improvisation, Flexibilität und Unterstützung von allen Seiten haben wir das hingekriegt“, blickt Viktoriya Syno zurück. Derzeit seien 25.000 Binnenflüchtlinge bei der Stadt registriert, die Hilfe in Anspruch nehmen. Weitere 10.000, so wird geschätzt, sind bei Verwandten oder Freunden untergekommen oder können ihr Leben selbst bestreiten.
Gruppenmitglieder, die Uzhhorod aus der Zeit vor dem Krieg kannten, waren überrascht, dass sich die Stimmung in der Stadt durch die fatalen Umstände nicht verändert hat. Auf der Brücke über den Usch, der die Altstadt mit der Neustadt verbindet, herrscht dasselbe geschäftige Treiben. Menschen kaufen ein, Kinder gehen zur Schule, Berufstätige zur Arbeit, Restaurants und Cafés sind gut besucht. Luftalarm, der ganz Transkarpatien teils mehrmals am Tag erfüllt, wird längst ignoriert.
Doch unbeschwerte Gespräche nehmen eine plötzliche Wendung, wenn das Stichwort „Krieg“ fällt. Dann fließen Tränen. Durch verletzte und gefallene Kämpfer kommt der Krieg eben doch auch nach Uzhhorod. Sein traurigstes Dokument sind die fahnengeschmückten Ehrengräber auf dem städtischen Friedhof: eine endlose Reihe blumengeschmückter Gräber mit den Namen und Porträts der Gefallenen aus Uzhhorod.
Jeder Gefallene ist ein Verlust für die Familie. Eltern betrauern ihre Söhne, Frauen ihre Ehemänner, Mütter sind über Nacht alleinerziehend, Kinder vermissen ihre Väter. Auch Gästeführerin Tetiana ist eine Betroffene. Am Ende ihrer zweistündigen Führung unterhalb der griechisch-katholischen Kathedrale, neben dem Schloss die bedeutendste Sehenswürdigkeit von Uzhhorod, zeigt sie, äußerlich gefasst, ein Foto ihres Bruders, der vor einem Jahr gefallen ist. Sie vermisst ihn, und es tut ihr gut, dies auf ihre Weise mitzuteilen. Die Gäste spüren ihr Leid, fühlen sich hilflos. Ein langer Händedruck, ein gemurmeltes Beileid, mehr kann es nicht sein.
Informationszentrum berät Opfer sexualisierter und häuslicher Gewalt
Auch wenn man es den Menschen auf den ersten Blick nicht ansieht, weil sie sich bemühen, Alltag zu leben, ist der Krieg für nicht wenige eine enorme psychische Belastung. Der Druck entlädt sich dann zumeist in der Familie. 218 Fälle häuslicher und sexualisierter Gewalt registrierte das 2021 neu geschaffene Tageszentrum in kommunaler Trägerschaft für betroffene Frauen und Kinder im vergangenen Jahr. Verstärkte Aufklärung treibt die Zahl nach oben.
Frauen, die das Tageszentrum aufsuchen, weil die Situation zu Hause für sie unerträglich geworden ist, finden in der Einrichtung verständige Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, die sich ihre Geschichte in Ruhe anhören und aufzeigen, wie es weitergehen kann. Sind Kinder dabei, werden auch sie angehört; die Aufzeichnungen dazu sind später vor Gericht verwendbar, was den Kindern erspart, ihre Leidensgeschichte wiederholen zu müssen. Für Härtefälle betreibt das Zentrum eine streng geheim gehaltene Notunterkunft, in der die Betroffenen bis zu drei Monate bleiben können.
Der Besuch des Tageszentrums war ein zentraler Punkt im Programm der Darmstädter PDUM-Delegation und der Expertin, einer Mitarbeiterin der Beratungsstelle des Darmstädter Frauenhauses. PVUD und PDUM wollen sich in diesem Bereich künftig stärker einbringen. Im zentral gelegenen Informationszentrum, das die beiden Vereine mit finanzieller Förderung des Auswärtigen Amtes der deutschen Bundesregierung 2021 einrichten konnten, wird das städtische Tageszentrum durch eine freie Beratungsstelle für häusliche und sexualisierte Gewalt ergänzt. Sozialamtsleiter Ivan Flenko begrüßt die Initiative und bringt die fachliche Kompetenz seines Amtes ein.
Das Informationszentrum ist die Keimzelle aller Aktivitäten der beiden Vereine und Basis der öffentlichen Förderung. Dank der erneuten Unterstützung durch das Auswärtige Amt konnte es in diesem Jahr weiter ausgebaut werden. Die Arbeit im Informationszentrum hat sich verändert. Lag vor dem Krieg der Schwerpunkt auf politischer und medialer Bildung, geht es inzwischen verstärkt um Lebens- und Überlebensstrategien speziell der Geflüchteten. Ein Jugendtreff wurde eingerichtet, Selbstverteidigungskurse finden sich im Programm, es gibt einen Englisch-Club und Begegnungsangebote für Frauen. Mittelfristig denkt die PVUD-Vorsitzende Viktoriya Syno an eine stärkere Vernetzung mit anderen ukrainischen Vereinigungen, um den Wiederaufbau der Ukraine zu beschleunigen.
Ein weiteres Vorhaben des Informationszentrums hat das ehrgeizige Ziel, den Mittelstand zu stärken. Der Plan ist, die bislang verschulte Ausbildung im Handwerk nach deutschem Muster in ein duales System umzuwandeln, das der betrieblichen Ausbildung eine stärkere Bedeutung gibt und Lerninhalte verbindlich festschreibt. Mit breiterem Fachwissen hätten dann die Ausgebildeten mehr Chancen, sich selbstständig zu machen, sind PVUD und PDUM überzeugt. Mit dem Bäcker- und Konditorhandwerk soll begonnen werden.
Am Ende der – inklusive An- und Abreise – fünftägigen Informationsreise, zu der auch die Besichtigung städtischer Unterkünfte für Binnenflüchtlinge, ein Besuch beim Uzhhoroder Presseclub und ein Treffen in der Behinderteneinrichtung „Glaube und Hoffnung“ zählten, stand bereits das nächste Wiedersehen fest. Noch vor Weihnachten findet in Uzhhorod das Abschlussgespräch statt. Dabei geht es auch um künftige Maßnahmen. Der Antrag auf weitere Förderung dieses für die Binnenflüchtlinge und Uzhoroder Bürgerinnen und Bürger so wichtig gewordenen Informationszentrums ist bereits gestellt.
(Text: PM PDUM Partnerschaft Deutschland-Ukraine/Moldova e.V.)