Stationsäquivalente Behandlung in den eigenen vier Wänden

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Oberarzt Stephan von Nessen (Foto: Asklepios)

Seit Juli ist Oberarzt Stephan von Nessen an der Asklepios Psychiatrie Langen tätig. Im November soll dort das neue Behandlungsprojekt starten.

Die Asklepios Psychiatrie Langen erweitert ihr Behandlungsangebot: Im November soll die Stationsäquivalente Behandlung (StäB), starten. Damit würden Patienten erreicht, die man sonst nicht erreichen könne, hob Oberarzt Stephan von Nessen hervor, der die Institutsambulanz der Klinik leitet und künftig auch für das Projekt StäB zuständig ist. Über verschiedene Kanäle erfahre man immer wieder von Menschen, die sich auffällig verhielten und wahrscheinlich psychisch krank seien, aber nie ein Krankenhaus aufsuchen, um sich dort helfen zu lassen. Möglicherweise ließen diese Personen aber eine „niedrigschwellige Behandlung“ in Form von Hausbesuchen zu. Auch für Patienten, die sich stationär behandeln lassen, unbedingt aber in ihr gewohntes Umfeld zurückkehren wollen und dort aus unterschiedlichen Gründen nicht zurechtkommen, sei die Stationsäquivalente Behandlung geeignet.

Der Begriff bedeutet, dass sich ein Team der Klinik, dem Ärzte, Psychologen und Pflegepersonal angehören, um die zu Hause, in ihrer gewohnten Umgebung lebenden Patienten kümmert. Auch Sozialarbeiter, Ergo- und Physiotherapeuten können je nach Bedarf eingebunden werden. Patienten mit schweren Depressionen und ausgeprägten Anpassungsstörungen, aber auch Menschen in Krisensituationen kommen ebenso in Frage wie Personen mit beginnenden Psychosen, denen man „die verstörenden Eindrücke einer geschlossenen Station“ ersparen wolle. Der Behandlungsstandard erfordert, dass sieben Tage in der Woche wenigstens ein Mitarbeiter des Teams zu den Patienten fährt; mindestens einmal pro Woche macht sich ein Arzt dort im Rahmen einer Visite ein eigenes Bild. Durch die Besuche in der jeweiligen Wohnung bekomme man „einen ganz anderen Blick auf den Leidensdruck, den solche Menschen haben“, sagte von Nessen. Zu den Zielen der Stationsäquivalenten Behandlung gehört unter anderem, die soziale Teilhabe des Patienten zu verbessern: Je mehr soziale Kontakte ein Patient habe, desto besser sei die Prognose. Der multiprofessionelle Ansatz dieser Behandlungsform schließe ein, dass sich das Team einmal pro Woche miteinander austausche, machte von Nessen deutlich.

Für Patienten, die für sich und andere eine akute Gefahr darstellen, ist die Stationsadäquate Behandlung nicht geeignet; sie müssen stationär aufgenommen werden. Im vergangenen Jahr wurden schon einige wenige Patienten von der Asklepios Psychiatrie Langen stationsäquivalent zuhause betreut. Mit dem offiziellen Start von StäB wird sich die Patientenzahl erhöhen. Man setze auf eine enge Absprache mit den niedergelassenen Fachärzten, dem Sozialpsychiatrischen Dienst und den Psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen, machte von Nessen deutlich. Er rechnet mit zunächst vielleicht sechs Patienten, die das StäB-Team versorgen könne; die Zahl dürfte sich später auf zehn bis 15 Personen erhöhen. Bis zum Starttermin im November werde das erforderliche Pflegepersonal zur Verfügung stehen. Von den Patienten erwartet der Mediziner lediglich, „dass sie imstande sind, zu formulieren, dass sie Hilfe brauchen“. Gegen den Willen eines Menschen sei es immer schwierig und im häuslichen Umfeld vermutlich unmöglich, jemandem zu helfen.

Seit Anfang Juli ist von Nessen an der Asklepios Psychiatrie Langen tätig. Der 58 Jahre alte Mediziner wuchs in Frankfurt auf und entdeckte schon früh sein Interesse an der Psychiatrie: Seinen Zivildienst leistete er bei dem 1970 gegründeten Verein „Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt“ ab. An der Frankfurter Goethe-Universität studierte von Nessen Medizin. Schon während des Studiums war er am Aufbau des Schlaflabors der Uniklinik beteiligt; in der Psychiatrie und beim Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt absolvierte er eine Famulatur. Nach dem Examen blieb von Nessen zunächst als Arzt an der Uniklinik, wo er das Schlaflabor leitete. Später wechselte er an die Klinik Bamberger Hof in Frankfurt: eine Klinik ohne Betten, die über keine Stationen (mehr) verfügte, aber schon vor 25 Jahren neben ambulanter und teilstationärer Behandlung in einem Pilotprojekt ambulante psychiatrische Akutbehandlung zu Hause (APAH) anbot. Dort habe er sehr viel über die Behandlung der Patienten in deren Zuhause und die Zusammenarbeit mit den extramuralen Trägern gelernt, hob von Nessen hervor. Kurz nach der Jahrtausendwende übernahm er an der Fachklinik Hofheim, der heutigen Varisano Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik, die Zuständigkeit als leitender Arzt der Institutsambulanz und qualifizierte sich zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Als jüngst das Angebot kam, als Oberarzt an die Asklepios Psychiatrie Langen zu wechseln, sagte er ohne zu zögern zu.

An der Tätigkeit dort reizte ihn die Möglichkeit, die Leitung der Institutsambulanz zu übernehmen; dies sei eine Tätigkeit, „von der ich weiß, dass sie mir Spaß macht“. Als Oberarzt könne er „mehr mitbestimmen und konzeptionell mitarbeiten“ – gerade bei dem neuen Projekt der Stationsäquivalenten Behandlung. Dass an der Asklepios Psychiatrie Langen schon seit geraumer Zeit mit papierlosen Akten gearbeitet wird, gehörte für den Mediziner zu den positiven Erfahrungen der ersten Monate: Von jedem Computer aus könne man die Krankengeschichte der Patienten einsehen, ohne erst dicke Akten heraussuchen zu müssen, wie es in anderen Kliniken noch üblich sei.

Die Psychiatrische Institutsambulanz der Langener Psychiatrie hält Angebot für Patienten bereit, die aufgrund von Art, Schwere und Dauer ihrer psychischen Erkrankung auf eine dauerhafte Behandlung angewiesen sind, aber nicht stationär aufgenommen werden müssen. Erster Ansprechpartner für die Patienten sollte dennoch ein niedergelassener Facharzt oder ein Psychotherapeut sein, machte von Nessen deutlich. Auch psychisch kranke Menschen, die nach einer stationären Behandlung entlassen werden, werden bei Bedarf in der Institutsambulanz weiterbetreut. Außer von Nessen sind dort noch drei weitere Ärzte, eine Sozialarbeiterin, eine Psychologin und Pflegekräfte tätig.

Von Nessen, der sechs Kinder hat, fotografiert in seiner Freizeit leidenschaftlich und spielt E-Bass und Gitarre. Bei der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt engagiert er sich bis heute: Seit vielen Jahren setzt er sich dort als ehrenamtlicher Erster Vorsitzender für die Belange psychisch kranker Menschen ein. Rund 50 festangestellte Mitarbeiter hat der Verein, der unter anderem eine Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle, eine Tagesstätte, ein Wohnheim und einen offenen Treffpunkt betreibt. Viele psychisch Kranke seien wirtschaftlich oder vom Wohnungsverlust bedroht; „das ist keine gute Entwicklung“.
Seinen Beruf als Arzt findet von Nessen „toll“: Wenn er fit bleibe, „mache ich das, solange ich kann“.

(Text: PM LPR)