Wie kam die neuhochdeutsche Sprache in den Odenwald?
Thomas Hess, Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsvereins Lützelbach, konnte in den sehr schön renovierten Räumen des Hofhauses in Lützelbach-Rimhorn zahlreiche Gäste zum ersten Vortrag nach zwei Jahren Pandemie-Pause begrüßen. Das seit 25 Jahren stattfindende „Odenwald-Forum“ firmiert jetzt unter „Kultur im Hofhaus“.
Im Vorprogramm erläuterte zuerst Herbert Koschoreck, was alles am 2. Juni voriger Jahrhunderte geschah – es war ein ereignisreicher Tag.
Heidi Banse blickte dann in den „Centralanzeiger“ des Jahrgangs 1922. Viele Ereignisse erschienen sehr aktuell, z.
Hauptreferent des Abends war Dr. Erwin Kreim aus Otzberg/Mainz. Er stellte die spannende Frage: „Wie kam die neuhochdeutsche Sprache in den Odenwald?“
Wie wurde denn Ende des 15. Jahrhunderts im Odenwald gesprochen? Da es keine Tondokumente gibt, könnten vielleicht frühe schriftliche Aufzeichnungen Rückschlüsse ermöglichen. Aber auch da ist Fehlanzeige. Das älteste schriftliche Dokument ist eine um 1450 geschriebene Bibelhandschrift, die sogenannte „Erbacher Bibel“, (heute in der Universitätsbibliothek Freiburg), und sie ist in alt-fränkischer Sprache verfasst. Eine heute für uns unverständliche Sprache, die auch damals im Odenwald nicht gesprochen wurde. Die Schenken von Erbach waren in Diensten der Kurzpfalz (Heidelberg) und die Odenwälder Soldaten dürften sich eher mit dort gesprochenen Rhein-Fränkisch verständigt haben. Bei den über zwanzig Sprachen, die es damals im Kaiserreich gab, herrschte ein fast babylonisches Sprachengewirr – nur Latein erleichterte die Verständigung über Grenzen hinweg.
In dieser Zeit gab es im Odenwald keine Schulen, Bildungsstätten waren die Klöster. Wie war es möglich, dass ein Michelstädter Bauernbub, Nikolaus Matz, geboren 1466, mit 12 Jahren zum Studium nach Wien gehen konnte und in wenigen Jahren als Gelehrter zum Rektor der Universität Freiburg gewählt wurde? Die wunderbaren Zeugnisse seiner Gelehrsamkeit sind noch heute in der Nikolaus-Matz-Bibliothek in Michelstadt zu bewundern. Die Schenkung im Jahr 1499 dürfte einen gewissen Bildungsschub ausgelöst haben. Aber vor allem war es die rasche Ausbreitung der von Johannes Gutenberg entwickelten Druckkunst, die um 1500 ersten Schulgründungen außerhalb der Klöster auslöste. In Michelstadt gab es 1532 eine erste Lateinschule in „kirchlicher Trägerschaft“, d.h. Pfarrer waren die Lehrer. Die erste in deutscher Sprache verfasste Schulordnung der Grafschaft Erbach stammt von 1579, und die Sprache – eine Mischung aus Kanzleideutsch und Küchenlatein – können wir heute zwar verstehen, aber so haben die Menschen sicher nicht gesprochen.
Dr. Kreim zeigt am Beispiel eines Lutherbriefes von 1530, dass auch Martin Luther die sächsische Kanzleisprache nutzte – nur eine in Anleitungen für Schreiber entwickelte Sprache der schriftlichen Kommunikation. Der Referent zeigt an vielen Beispielen, wie diese Formelbücher, später als Briefsteller bezeichneten Lehrbücher, wesentlich zur Bildung einer neuhochdeutschen Sprache beitrugen.
Die in deutscher Sprache 1602 gedruckte Kirchenordnung für die Grafschaft Erbach ist eindeutig vom Ratgeber für Notare geprägt. Die normalen Kirchenbesucher dürften diese Texte weder gelesen noch verstanden haben, ihre Sprache hat sich außerhalb von Schulen entwickelt.
Imposant das Titelbild eines Sekretariats-Buches von 1681. Es sind vier typisierte Frauengestalten – in einer Männerwelt (die Staatsweysin, die Wohlrednerin, die Historikerin, die Poetin), die für das über 5000 Seiten umfassende Werk werben. Es ist das dickste bis dahin gedruckte Buch und hat die Verständigung im Kaiserreich wesentlich beeinflusst.
Erst Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in fast allen hessischen Gemeinden Schulen, die von Buben und Mädchen besucht werden konnten, aber wenn die Kinder zum Arbeiten gebraucht wurden, waren sie nicht zur Schule verpflichtet. Eine allgemeine Schulpflicht wurde erst nach 1871 im ganzen Kaiserreich eingeführt. Ab 1902 wurde in ganz Deutschland einheitlich geschrieben und so auch im Odenwald. Aber selbstverständlich wurde weiter in von Ort zu Ort abweichenden Dialekten gesprochen.
Langanhaltender Applaus und Dank des Vorsitzenden des HGV Thomas Hess schlossen die erste sehr gelungene Vortragsveranstaltung Kultur im Hofhaus.
Wer die interessanten Ausführungen des Referenten nachlesen will:
Annette Ludwig (Hrsg.): Bestseller – Briefsteller – Verborgende Schätze des Gutenberg-Museums, NA-Verlag 2021, ISBN 978 -3-96176-133-3