„Der Krieg ist bereits in Europa angekommen“ – Betroffene des Ukraine Krieges über Frieden als Luxusgut

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Gemeinsam verstecken sich Ukrainer vor den russischen Luftangriffen.

FRANKFURT | An den Grenzen zu Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Moldawien kommen tausende flüchtende Menschen aus der Ukraine an. Sie sahen mit an, wie Bomben auf ihre Heimat fielen und mussten Menschen zurücklassen, die sie lieben. Ukrainer in Deutschland und auch Deutsche mit ukrainischen Wurzeln haben ein besonderes Verhältnis zu der Situation. Die Gedanken kreisen bei ihnen nur noch um ihre Verwandten in der Heimat und das Thema Krieg.

Der Krieg begann bereits vor acht Jahren

Olga Khait, 24 Jahre, aus Wiesbaden ist bereits Ende 2011 mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Ein großer Teil ihrer Familie lebt immer noch dort. Ihre Freundin Sarah Naim, ebenfalls 24 Jahre, ist in Deutschland geboren, ihre Mutter stammt aus der Ukraine. Die beiden sehen die Gefahr nicht nur in der Ukraine, sondern fürchten um den Frieden in ganz Europa. Für die beiden Frauen hat der Krieg bereits vor acht Jahren mit der Annexion der Krim begonnen. Dabei möchten sie nur eines: Frieden für die Ukraine und Europa.

Aus dem Untergrund schicken Ukrainer Bilder an ihre Familien im Ausland, damit sie wissen, dass es ihnen gut geht.

Sarah wirkt bei dem Gespräch aufgebracht. Dennoch drückt sie sich gewählt aus und wählt ihre Worte mit Bedacht: „Frieden in Europa ist purer Luxus. Die Menschen machen sich keine Gedanken mehr darüber, woran es liegt, dass in Europa schon so lange Frieden herrscht.  Dass dieser eben nicht selbstverständlich ist, und dass in vielen Gegenden dieser Welt bis heute kein Frieden herrscht.“

Der Wunsch der Ukraine ein Teil der EU zu werden

Die Europäische Union (EU) ist ein Friedensprojekt, das 1993 als Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft entstand. Bis vor kurzem galt die Mitgliedschaft in der EU für die Ukraine noch als ausgeschlossen. Bestrebungen, Teil der EU zu werden, gab es bereits seit dem Ende der Sowjetunion in den 1990er Jahren. Im Jahr 2004 fand die „Orangene Revolution“ statt, die die Ambition der Ukraine erneut verstärkte.

Im Jahr 2013 war es dann so weit und ein Abkommen mit der EU, das die Beziehungen weiter verstärkt hätte, sollte geschlossen werden. Doch der damalige Präsident Wiktor Janukowytsch hat das Abkommen auf Eis gelegt. Stattdessen strebte er Handelsgespräche zwischen der Ukraine und Russland an. Es folgten Massenproteste (Euromaidan) der Bevölkerung, die dazu führten, dass die damalige Regierung gestürzt wurde. Bei diesen Protesten kam es auch zu exzessiver Gewalt gegen die Demonstrierenden. Zahlreiche Menschen wurden dabei getötet. Die damaligen Proteste stehen symbolisch für den Aufschrei der Ukraine und für einen Wechsel der Regierung. Die neu gewählte Staatsmacht schloss das Abkommen dann zwar ab, doch zur gleichen Zeit herrschte Krieg – die russische Regierung annektierte die Krim.

Der jetzige Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert seit dem russischen Überfall auf sein Land die sofortige Aufnahme in die EU. Zwar hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bestätigt, dass die Ukraine langfristig beitreten könne, doch gegen ein schnelles Sonderverfahren, so wie es sich Selenskyj gewünscht hatte, sprechen sich nun weitere Stimmen aus.

Hoffnung auf mehr Unterstützung

Doch genau in diesem bürokratischen Handeln sehen Olga und Sarah eines der Kernprobleme des ausschreitenden Konflikts. „Schutz sollte nicht erst an der Nato-Grenze anfangen“, sagt Sarah. „Schutz braucht Europa. Die Ukraine muss zurzeit als Puffer herhalten für ganz Europa“, kritisiert sie. Sie glaube nicht daran, dass Putin die Grenzen anderer europäischer Länder noch einhält, wenn er die Ukraine erobert habe. Er legitimiert sein Handeln damit, dass er meint, dass die Ukraine in der Vergangenheit Teil Russlands war. Doch es gibt noch mehr Länder, die der ehemaligen Sowjetunion angehörten.

Sarah führt weiter aus: „Wer garantiert, dass nach der Ukraine tatsächlich Schluss ist? Jetzt abzuwarten, bis Putin an der eigenen Haustür klingelt, ist einfach nur Prokrastination. Der Krieg ist bereits in Europa angekommen und die Menschen müssen das realisieren.“

Ausgeschlossen ist auch, dass die Ukraine bald Teil der Nato werden kann. Die Nato-Staaten haben einander zugesichert keine Staaten aufzunehmen, die in aktive Kriegshandlungen verwickelt sind. Somit zerfällt die Hoffnung vieler, dass der Ukraine schnell militärische Hilfe geleistet wird.

Olga ist zwar dankbar dafür, dass sich so viele Menschen auf der Welt solidarisch zeigen und es zu massenhaften Sach- wie auch Geldspenden kommt. Dennoch hat sie Angst davor, dass die Menschen glauben, das Nötigste getan zu haben: „Wir dürfen in keine Schockstarre verfallen, sondern müssen aktiv bleiben. Jede Sekunde, in der wir warten, sterben Menschen. Ist die EU wirklich bereit, 44 Millionen Menschen zu opfern, nur um die Hoffnung aufrecht zu erhalten, dass Putin nicht doch noch ein anderes Land angreift?“

Sie berühre auch die Herzlichkeit, mit der Flüchtlinge in Europa aufgenommen werden. Doch statt die Energie lediglich in humanitäre Hilfe zu stecken, sollte ihrer Meinung nach mehr in die militärische Operation gesteckt werden, um diesen Krieg aufzuhalten. Olga spricht sich daher für eine weitreichende Luftraumsicherung durch die Nato, mehr Sanktionen gegen Russland, die Aufrüstung von militärischer Ausrüstung sowie die Entsendung von Truppen der EU in die Ukraine aus. Gerade durch die Sanktionen meint Olga, könnte die russische Bevölkerung endlich aufwachen. Sich gegen Putin stellen, sich auf die Straße trauen und sich gegen die russische Propaganda stellen. Auch wenn das heißen könnte, wegen des Protests festgenommen zu werden.

“Wenn das Leben deiner Familie (..) auf dem Spiel steht, denkt man halt anders”

Sarah fügt noch an: „Wir haben volles Verständnis für alle Personen, die sich gegen Waffenlieferungen aussprechen. Ich selbst habe mich immer als Pazifistin gesehen. Doch wenn das Leben deiner Familie und deiner Freunde auf dem Spiel steht, dann denkt man halt anders.“ Olga erzählt weiter: „Meine Tante meinte zur mir, sie dachte nie, dass sie mal eine Waffe in die Hand nehmen würde. Doch jetzt, wo es darum geht, ihr eigenes Leben zu verteidigen oder einfach aufzugeben, hat sie sich dafür entschieden, gegen die Invasion zu kämpfen.“

Nur mit dem Nötigsten am Leib retten sich die Menschen an vermeintlich sichere Orte.

Die Angst davor, dass Putin weitere Grenzen überschreitet ist in ganz Europa groß. Spätestens seit Aufnahmen von Putins Komplizen Alexandr Lukaschenko aus Belarus aufgetaucht sind, die ihn dabei zeigen, wie er mit einem Zeigestock vor einem großflächigen Operationsplan steht, haben sich die theoretischen Ängste in konkrete verwandelt. Der Ministaat Transnistrien oder auch die Republik Moldau könnten die nächsten sein, die überrannt werden.

Olga und Sarah machen sich weiter stark, um die Europäische Union dazu zu bringen, die Ukraine auch militärisch zu unterstützen. Sie gehen auf jede Mahnwache, Demonstration, zeigen Flagge, haben Spenden organisiert wie auch selbst gespendet und haben einen offenen Brief an die Bundesregierung geplant. Sie erstarren nicht vor Angst. Sie machen weiter, um in Demokratie und Frieden leben zu können.

(Text: TL | Fotos: privat)