Offenbach: Die Broschüre „Stolpersteine – gegen das Vergessen“ erinnert an die Ermordeten des NS-Regimes

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Gabriele Hauschke-Wicklaus, Ellen Katusic und Barbara Leissing mit der Broschüre. (Foto: Stadt Offenbach)

Zehn mal zehn Zentimeter groß sind die Messingplatten, die sich auf Gehwegen in zahlreichen Orten Europas und natürlich auch in Offenbach finden lassen. Sie markieren die Leerstellen, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat. Eben jene Häuser, in denen vom NS-Regime verfolgte Menschen lebten, bis sie zur Emigration gezwungen oder deportiert und ermordet wurden. Verfolgt, weil sie Juden, Roma, Sinti, Gewerkschaftler, Kommunisten, Zeugen Jehovas oder körperlich beziehungsweise psychisch eingeschränkt waren.

Wer an den Stolpersteinen stehen bleibt erfährt, wer in der jeweiligen Adresse lebte, nicht mehr als einen Namen, Geburts- und wenn vorhanden Todestag oder eine kurze Information über den weiteren Verbleib. 90.000 solcher Erinnerungsstellen hat Künstler Gunter Demnig seit 1996 europaweit in 1.800 Kommunen verlegt. 200 waren es in Offenbach, wovon einige während der Corona-Pandemie stellvertretend vom ESO verlegt wurden, der auch sonst vorbereitend unterstützt. „Ehrfuchtsvoll“ sei das gewesen, erinnert sich Barbara Leissing von der Geschichtswerkstatt. Gemeinsam mit einigen anderen Offenbacherinnen und Offenbachern arbeitet sie engagiert mit Vorträgen, Recherchen, Stadtrundgängen und einer jährlichen Stolperstein-Putzaktion daran, dass dieses Erbe der Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät.

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, heißt es im Talmud, dem bedeutendsten Schriftwerk des Judentums. Das sei das Credo Demnigs und auch Motor der Geschichtswerkstatt, erklärt Leissing: „aber viel mehr als ein, „hier wohnte…“ kann man eben von den Stolpersteinen nicht erfahren. Wir möchten aber gerne mehr erzählen über Menschen, wie dem Ehepaar Schönhof aus der Bismarckstraße 67, von dem nichts mehr blieb als einer von unzähligen Koffern im Konzentrationslager Auschwitz.” Deshalb gibt es jetzt die Broschüre, die vorerst die Lebenswege und Schicksale von 200 ermordeten oder vertriebenen Nachbarn, Geschäftspartnern, Klassenkameraden und Freunden darstellt. Vorerst, weil es noch viele weitere Leerstellen zu füllen gibt, mit Messingtafeln, aber auch mit den Erzählungen der gelebten Leben.

Geschichte greifbar machen

Vor der Erzählung für die Broschüre stand die Recherche: Denn oftmals gab es tatsächlich erstmal nur den Namen und ein Datum in der Deportationsliste, meist auch eine Meldekarte im Stadtarchiv. Wer war Josef Kupczyk, wohnhaft im August-Bebel-Ring 10, der einsam 1944 in Buenos Aires starb? Hans Stoffers aus der Ludwigstraße 42? „Ab 1942 wurden bewusst falsche Eintragungen auf den Meldekarten gemacht“, berichtet Gabriele Hauschke-Wicklaus von ihrer Recherche, „dann steht dort „ohne Angabe des Wohnsitzes verreist“ oder „unbekannt verzogen“, obwohl die Menschen deportiert wurden. Dazu muss man die Daten mit den Deportationslisten abgleichen, dann weiß man im besten Fall etwas über den Verbleib eines Menschen.“ Oder sie kontakte das Arolsen Archiv, das ist das weltgrößte Magazin für Akten von NS-Verfolgten, um mehr zu erfahren. Oft halfen und helfen aber auch Angehörige und Nachfahren der Umgekommenen, die auch siebzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs mehr über den Verbleib ihrer Angehörigen wissen möchten: „Die Stolpersteine werden auch im Ausland wahrgenommen“, sagt Ellen Katusic, „überhaupt wird sehr genau geschaut, was hier, in der ehemaligen Heimatstadt passiert.“

So habe sich auch die hochbetagte Irmgard Lorch aus New York 2018 bei der Geschichtswerkstatt gemeldet, weil sie sich Stolpersteine für ihre Familie wünschte. Daher lässt sich nun die Geschichte ihres Vaters Sali, der bis zur „Arisierung“ Teilhaber der Weltfirma Rowenta war, nachverfolgen. Ähnlich auch im Falle der Eheleute Bachrach, bei dem sich zahlreiche Nachkommen aus Israel meldeten, die nicht wussten, dass im Haus ihrer Großeltern Willy und Bertha gegenüber der Synagoge in der Kaiserstraße 115 erst viele andere jüdische Familien einquartiert wurden, bevor sie sich auf dem Deportationsplatz vor der Haustür einfinden mussten. Das ist ein Aspekt, ein weiterer sei, dass die Nachkommen wissen wollen, ob es noch Menschen gibt, die sich erinnern beziehungsweise erinnern wollen, so Katusic weiter.

„So gefährlich wie damals ist es heute nicht mehr, sich zu engagieren“

Weil die Verfolgung nicht nur Juden galt, werden auch die Schicksale von 30 Menschen anderer Gruppen, meist aus dem politischen Widerstand, erzählt. Daraus lasse sich auch heute etwas lernen, meint Barbara Leissing: „So gefährlich wie damals ist es heute nicht mehr, sich zu engagieren.“

Die Broschüre „Offenbacher Stolpersteine – Gegen das Vergessen“ wird gegen eine Spende abgegeben und ist bei der Geschichtswerkstatt sowie in den Buchhandlungen erhältlich. Sie enthält neben den Beschreibungen und Fotos zwei Tabellen, in denen die Standorte der bisher verlegten Stolpersteine, einmal sortiert nach Straßennamen und einmal nach Familienname, stehen. Die Auflage ist mit 130 Exemplaren bewusst knapp bemessen, da im bereits im Mai 2022 weitere 14 Stolpersteine verlegt werden. Die Verlegung eines Stolpersteins kostet 132 Euro, die Geschichtswerkstatt freut sich auch über Spenden und Paten, die sich um den Zustand der Steine kümmern.

(Text: Stadt Offenbach)